“N’ Alter hat für mich irgendwie keene Bedeutung”

Lieber Günter,

unverkennbar: unser Johannes. 25 Jahre ist das jetzt her. Der damals 18jährige Junge wäre also jetzt 43. Schwer vorstellbar. Nicht nur, weil er damals dem befürchteten Spießertum einen JimmyJanisJim-mäßigen Tod mit 27 vorzog. Was das Alter ja doch bedeutsam zu machen schien. Was er aber aufzulösen versuchte, indem er sich eine Theorie, in Zeitschleifen zu leben, erschuf. Das Ende ist nicht das Ende, sondern es geht wieder von vorne los. Wir haben damals keinen Gedanken daran verschwendet, wie es wäre, 60 zu werden. Ich nehme an, dass Du genauso wenig wie ich es Dir vorstellen konntest. Johannes dagegen packte die pure Angst bei der Phantasie, dass sein Vater “zwar ‘ne alte Hülle hat sozusagen, aber immer noch in Gedanken halt jenauso ist, wie halt in seinen achtzehnjährigen Zeiten oder so (…) weil man denkt so, wenn man so nicht darüber nachdenkt so, ach ja, ‘n alter Mann und so, der fühlt sich ja och bestimmt alt also”.

60 – ‘n alter Mann? Fühlt der sich alt also? Irgendwie passt das nicht, auch wenn von Jahr zu Jahr es immer mehr hier zwickt und da weh tut, dies nicht mehr geht wie früher und das den Affektpegel weniger in die Höhe treibt als einst. “Die farblose, die ungreifbare Zeit (…) hatte nur einfach ihr Werk getan.” Resigniert klingt auf den ersten Blick, was Proust seinem Roman-Alter-Ego attestiert, im Kontrast zur einstmals Angebeteten, die dieselbe mysteriöse Zeit in ein Meisterwerk verwandelt hat, sprich: zur Schönheit hat reifen lassen. Doch es gelang ihm, dem Marcel, sich zu trösten: dank seines Madeleine-Erlebnisses, den Biss in das Teegebäck, das die gesamte vergangene, scheinbar verlorene Zeit wieder hinaufspülte und ins Bewusstsein rückte, konnte er sich eines außerzeitlichen Wesens versichern, das ihm die Angst vor dem Tod nahm. Außerzeitliches Wesen – solche Finessen stehen uns nicht zu Gebote. Oder doch?

Jung und Alt. Die Alten, das waren die anderen, damals. Die Jungen auch. Wir zwischendrin. Für die Jungen waren wir schon vor 20 Jahren die Alten. Und für einen gesunden, lebensfrohen 80jährigen sind vielleicht immer noch die Alten die anderen. In Corona-Zeiten muss man zumindest 80 geworden sein, um zu den besonders Schutzbedürftigen zu zählen.

90 Jahre ist es jetzt her, dass Hertha BSC zum letzten Mal Deutscher Fußball-Meister wurde. Gibt es heute überhaupt noch jemanden, der sich daran erinnern kann? Als Du geboren wurdest, war es bereits 30 Jahre her. 2 Jahre war es damals her, dass Eintracht Frankfurt zum einzigen Mal die Meisterschaft errang. Seitdem leiden die Fans beider Vereine. Die einen seit 90 Jahren, die anderen seit 62. Wir haben oft darüber gesprochen, wie gerade das Leiden Bindungsenergie erzeugt, gerade die Ambivalenz des Fan-Melancholikers seine Identifizierung ins Unausweichliche treibt. Man kann nicht einfach mal “seinen” Verein wechseln.

Das mit der Identität, das war eine vertrackte Sache. Ein Ding der Unmöglichkeit, an dem Du Dich für Deine Promotion abrackertest. Denkt man über Identität nach, scheint’s ein Problem zu geben. Man braucht sie, um ihr gerade nicht anheimzufallen. Und man braucht sie, um sich im Jahrmarkt der Möglichkeiten nicht zu verflüchtigen. Aber sie ist zugleich Ideologie. Schauerlich, wie sie das Leben an vielen Universitäten heute (wieder) vergiftet. Wir sind, was wir sind – dieses Schlagwort hat Identität auf ihre primitivste Formel gebracht. Als Subjekt sich scheinbar zu behaupten zu glauben, doch als Exemplar einer Gattung zu landen – da ist der Selbstwiderspruch, der schwer ertragen wird. Die Identitären aller Spielarten wollen saubermachen. Der Bruch, der Riss, die Zumutung für einen jeden, der soll gekittet, unsichtbar gemacht werden können. Johannes war bei allem Rededrang ja auch ein kleiner Philosoph. Kaum ist er “total glücklich”, denkt er an den Tod, weiß er, “irgendwann isses vorbei”. “Die Schizophrenie des Lebens” hat er’s genannt und uns damit einen Aufsatztitel beschert. Er hat gewusst, dass die Rechnung nie aufgehen wird. Wohin er noch (?) nicht gelangt war, ist die Erkenntnis, dass es die Paradiese überhaupt nur als verlorene gibt. Er hatte noch kein Konzept der Nachträglichkeit. Er hat in seinem Blick zurück immer zugleich in eine ungreifbare Zukunft geschaut. Die vergehende Zeit war ihm als 18jährigem schon unheimlich.

Du warst für mich der Lichtblick des Grundstudiums. Dein Engagement für die Arbeit, das keine Sonderschicht scheute, war beeindruckend. Du bist nie einer geworden, der von braun sich verfärbten Zetteln abliest und behauptet, in den letzten 30 Jahren hätte sich nichts Nennenswertes ereignet. Dein Arbeitseinsatz war für mich immer auch beängstigend. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man das auf Dauer leisten kann, ohne irgendwann zusammenzubrechen. Erleichtert vernahm ich, wenn Du sagtest, Du wolltest einmal kürzer treten. Bis mir klar wurde: kürzer treten heißt bei Dir, ein, zwei Bücher weniger im Jahr herauszugeben. Du belehrst mich eines besseren. Es geht. Und Du schaffst dabei noch die eine oder andere Wendung, während andere schon die Jahre bis zur Pensionierung zählen. Doch bei allen Wendungen bist Du Dir immer treu geblieben. Das hat, bei aller Bewegtheit, etwas von Stoizismus. Wir müssen es nicht Identität nennen.

Wie vermisse ich unsere Abende. Wir konnten unsere Lebensthemen endlos durchkauen. Bei jedem Kauvorgang, wurde eine neue Nuance dem Gegenstand entlockt. Aber auch vor Thomas Bernhard’scher Redundanz war uns nicht bange. Solange nur die legendären Hackfleischbällchen auf den Tisch kamen. Und wenn der Grieche zumachte, gab es immer noch irgendeinen Laden, der mäßigen Wein einschenkte. Auch dem gegenüber hast Du eine Unerschrockenheit gezeigt, die mir Respekt abnötigte. Die Hackfleischbällchen jedenfalls waren in gewisser Weise unser Code-Wort: für gemeinsam zelebriertes Sprechen, eingebettet in ausgelassenen Genuss. In meinen Lebensalltag hat sich allerdings etwas anderes aus gemeinsamer Erfahrung hinein verlängert: das Kartoffelpüree mit Knoblauch. Weil es so wunderbar zu mediterranem Fisch passt, hier mein wirklich simples Rezept: man koche Salzkartoffeln je nach Anzahl der Esser. Schütte sie ab, wenn sie gar sind. Fülle sie zurück in den noch heißen, mit klarem Wasser von hässlichen Rückständen befreiten Topf. Drücke sie mit dem Kartoffelstampfer leicht an, füge eine nicht zu große Knoblauchzehe durch die Knoblauchpresse gedrückt hinzu, dann gutes Olivenöl in ausreichender Menge, so dass die Kartoffeln mit dem Stampfer zu einer homogenen Masse verarbeitet werden können. Bis zum Servieren warm halten. Als Olivenöl empfiehlt sich ein solches, das, im Unterschied zu dem eher floralen toskanischen, nach reiferen Oliven schmeckt. Es muss kein griechisches sein, auch aus Süditalien oder Spanien stammen Öle dieser Art. Ganz wesentlich ist, dass nicht wie bei herkömmlichem Kartoffelpüree mehlige Kartoffeln verwendet werden, sondern festkochende! Da Du unsere kostbare gemeinsame Zeit nie mit Kochen verschwenden wolltest, kannst Du es nun selbst ausprobieren.

Im Grunde bin ich Dir dankbar, dass Du den Restaurantbesuch vorzogst. Ich jedenfalls hätte nicht mich gleichzeitig aufs Kochen und eine ernsthafte Debatte über die Psychologie der letzten Niederlagenserie oder die feinen Verästelungen des Beziehungslebens konzentrieren können. Und wir hatten ja wirklich keine Zeit zu verlieren. Selbst wenn wir 48 Stunden zur Verfügung hatten, hatte ich beim Abschied immer noch nicht das Gefühl, alles erschöpfend besprochen zu haben. Und seit wir nicht mehr in einer Stadt wohnen jedes Mal den Gedanken: um das, was nicht zur Sprache gekommen ist, in unserer Weise besprechen zu können, muss ich jetzt ein Jahr warten. Ein Jahr, eine ungeheure Zeitspanne. Dieser zukünftige Punkt kommt einem so entfernt vor, ist ein Jahr aber vergangen, erscheint es immer häufiger wie verflogen.

“… wenn Newton wirklich gemeint hat, die Zeit sei ein Strom wie die Themse, wo ist dann der Ursprung der Zeit und in welches Meer mündet sie endlich ein? Jeder Strom ist, wie wir wissen, notwendig zu beiden Seiten begrenzt. Was aber wären, so gesehen die Ufer der Zeit? Was wären die spezifischen Eigenschaften, die etwa denen des Wassers entsprächen, das flüssig ist, ziemlich schwer und durchscheinend? In welcher Weise unterscheiden sich Dinge, die in die Zeit eingetaucht sind, von solchen, die nie berührt wurden von ihr? Was heißt es, dass die Stunden des Lichts und der Dunkelheit im gleichen Kreis angezeigt werden? Warum steht die Zeit an einem Ort ewig still und verrauscht und überstürzt sich an einem anderen? Könnte man nicht sagen, sagte Austerlitz, dass die Zeit durch die Jahrhunderte und Jahrtausende selber ungleichzeitig gewesen ist? Schließlich ist es noch nicht lange her, dass sie sich ausdehnt überall hin. Und wird nicht bis auf den heutigen Tag das Leben der Menschen in manchen Teilen der Erde weniger von der Zeit regiert als von den Witterungsverhältnissen und somit von einer unquantifizierbaren Größe, die das lineare Gleichmaß nicht kennt, nicht stetig fortschreitet, sondern sich in Wirbeln bewegt, von Stauungen und Einbrüchen bestimmt ist, in andauernd sich verändernder Form wiederkehrt und, niemand weiß wohin, sich entwickelt?” Soweit W.G. Sebald. Und Johannes? “‘ne andere Theorie bezieht sich aber auch darauf, dass=et vielleicht gar keine Zeit an sich gibt – also wenn=et so ‘ne Schleife ist, würde die Zeit ja nich relativ existieren, also überhaupt nich existieren, wenn man det so sagen darf. Zeit als Zeitstrahl würde ja nich gehen, weil du ja immer wieder von vorne lebst, dann müsste die Zeit also in den Raum hineingehen.” Man braucht ja nicht so eine Überzeugung zu haben, “dass man halt ‘n Ziel oder wat auch immer, erfüllen muss – im Leben, und wenn man ‘s nich schafft, lebt man ‘s halt wieder von vorne”, damit die Zeit in den Raum “hineingeht”. Es reicht ein Blick auf den wachsenden Turm Deiner Veröffentlichungen, um ein ganz greifbar räumliches Erleben von Zeit zu gewinnen. Könnte man da nicht doch an Linearität glauben, dass zum Zeitstrahl auch ein Raumstrahl hinzutritt? Wo wären die Wirbel und Stauungen? Du warst ja mal eine Art narrativer Psychologe, bist es, nehme ich an, immer noch. Die Erzählung war Dir das Wesentliche, das erzählte Leben, die erzählte Zeit. Und wie sich das verändert. Wie eine Geschichte plötzlich ganz anders erzählt wird, obwohl die vergangenen “Fakten” ja “dieselben” geblieben sind. Wie das fortschreitende Leben die Vergangenheit verändert. Also eine Art Ungleichzeitigkeit der Zeit, über die sich nicht nur Sebald, sondern auch Proust Gedanken machte, letzterer aber genau umgekehrt als ein Hineinragen der Vergangenheit in ihrer vergangenen Gegenwart in die Gegenwart. Oder auch Johannes im Erschrecken über die Vorstellung, in der “alten Hülle” des Vaters könnte etwas von dem Jungen stecken, der er einmal war. Und nun bist Du performativer Psychologe und da ragt etwas aus Deiner Vergangenheit (eine Schleife? ein Wirbel?) in die Gegenwart hinein und wird neu lebendig. Ich muss gestehen, als Du mir das erzählt hast (wie viele Jahre ist das schon wieder her?), habe ich Dich bewundert dafür, wie Du es geschafft hast, in Deiner Arbeit, einer universitären Arbeit, in der schon viele kluge Menschen am bürokratischen Irrsinn verrückt oder zermahlen wurden, Dein eigenes Leben, Deine über die Zeit lebendig gebliebenen Interessen einzuholen und produktiv zu machen. Welches Bild wäre also für Dich unpassender als das eines von zwei Ufern begrenzten Flusses, der in bewusstloser Stetigkeit oder ebensolchem Anschwellen und Brausen dem Meere sich zubewegt?

Lieber Günter, nicht zuletzt, dass Du mein Trauzeuge bist und weißt welch eine Verbindung Du damit mit bekräftigt hast, die uns aber eben auch in im Alltag nicht überbrückbare räumliche Entfernung versetzt hat, hält meine Beziehung zu Dir dauerhaft wach (auch wenn wir manchmal lange nichts von einander hören). – Nun geh’ schon mal voraus. In dreihundertachtundfünfzig Tagen werde ich Dir folgen. Und dann werden wir darüber sprechen können, wie es war, diese Schwelle zu übertreten, die mir vorkommt wie noch keine im Leben zuvor.

Ich wünsche Dir alles Gute und dass Du mich weiterhin widerlegst: dass unablässiges Arbeiten nicht krank macht und nicht tötet (auch wenn ich nicht verhehlen kann, dass ich in dieser Frage hin- und hergerissen bin, ob ich Dir nicht doch noch immer wünschen soll, dass Du mal einen richtig fetten Urlaub machen kannst).

Tim