Closing LEcture BMT 2014

Lieber Günter,

Endlich feierst auch du deinen 60. Geburtstag – willkommen im Club der 60+! Ich sende dir meine herzlichsten Glückwünsche und hoffe, dass du noch ein langes, gesundes und glückliches Leben vor dir hast und jeden Tag deines Lebens genießt!

Irgendwie habe ich das Gefühl, dich schon ewig zu kennen. “Kennen” ist allerdings ein vager Begriff und sehr relativ: Eigentlich haben wir uns zu wenig oft und zu wenig intensiv getroffen, um tiefere Kenntnisse voneinander zu haben. Doch jenseits von Detailkenntnissen, auf der Ebene einer Grundschwingung nämlich, bist du mir seit jeher irgendwie vertraut.

Und ich habe den Eindruck, dir geht das ebenso. Du hast mich oft, auch coram publico, deinen Bruder genannt, deinen Schweizer Bruder. Das hat mir immer geschmeichelt. Auch diesbezüglich habe ich dich nie näher befragt, wie du darauf gekommen bist und was du damit meinst. Nie habe ich mich in diesem Kontext daran erinnert, was mir früher während des Kalten Kriegs Freunde in den osteuropäischen Staaten, also hinter dem Eisernen Vorhang, gesagt haben: “Die Russen sind unsere Brüder, nicht unsere Freunde. Brüder werden einem aufgezwungen, Freunde wählt man selbst.” Wenn du mich deinen Schweizer Bruder genannt hast, war dies für mich immer eine Wahlbrüderschaft. Da kamen in mir eher alte romantische Kindheitserinnerungen hoch, zum Beispiel von der (rituell herbeigeführten) “Blutsbrüderschaft” von Winnetou und Old Shatterhand. Auch sie haben sich damals nur kurz gekannt, sich aber trotzdem zu diesem Schritt entschlossen, um fortan gemeinsam durch dick und dünn zu gehen und treu zusammenzuhalten.

Closing Lecture BMT 2014

Diese als “Blutsbrüderschaft” propagierte Wahlbrüderschaft – das romantisierte Idealbild einer wahren Männerfreundschaft – wurde pikanterweise von einem Namensvetter von dir erfunden, Karl May. Ich weiß nicht, ob du ebenfalls Vorfahren in Hohenstein-Ernstthal bzw. im Raum Chemnitz hast. Entfernt verwandt seid ihr vermutlich schon. Jahrhundertelang orientierte man sich bei Namen nach der Phonetik, und spezifische Schreibweisen haben sich erst in den letzten 200-250 Jahren entwickelt. So sind Mey und May ursprünglich sehr wohl verwandt. Der Berliner Liedermacher Reinhard Mey – auch er vielleicht ein ferner Verwandter von dir – hat jedenfalls bewusst damit gespielt und ist manchmal auch unter dem Namen Rainer May aufgetreten.

Du und ich, wir haben uns über Katja und FQS kennengelernt, wo ich im Beirat bin, und haben auch im Projekt Open Access zusammengearbeitet. Wir tranken in der Ständigen Vertretung Bier miteinander und tauschten uns über Fotografie aus. Unsere Zusammenarbeit ging weiter am Berliner Methodentreffen wie auch am Schweizer Methodenfestival. Und besonders schön war es, dir einfach spontan und unverhofft auf der Straße zu begegnen, wie mal am Rosa-Luxemburg-Platz vor der Volksbühne, als ich in anderer Angelegenheit in Berlin war. Auch unsere je eigenen Wege führten uns wieder zusammen.

Vor der Volksbühne in Berlin 2016

Man kann vom 60. Geburtstag halten, was man will. Die einen kriegen das Gruseln, schon so alt zu sein und in nun bereits absehbarer Zeit aus dem Berufsleben ausgeschieden zu werden, die anderen streiten schlichtweg ab, dass dies ein besonderer Geburtstag sei. Selbstverständlich hat das Feiern eines “runden” Geburtstags mehr mit Zahlenmystik als mit dem wirklichen Leben zu tun – die einen sind bereits mit 40 alt, die anderen mit 60 noch immer jung. Trotzdem macht es meines Erachtens Sinn, im Leben besondere Zeitpunkte einzuschalten, an denen man innehält, um zu feiern, aber auch um wieder mal aufs eigene Leben zurückzublicken und sich darauf zu besinnen, worauf es denn eigentlich wirklich ankommt.

Und selbstverständlich ist es auch schön, wenn man diese Kontemplation nicht nur in Einsamkeit durchführen muss, sondern zu diesem Geburtstag auch Feedbacks seiner Freund*innen und Kolleg*innen erhält. Meinerseits hast du jedenfalls –  wie auch Katja – meine absolute Bewunderung dafür, dass ihr mit den beiden von euch aufgebauten Plattformen FQS und BMT einen unerhört großen und nachhaltigen Beitrag zur Verbreitung und Weiterentwicklung der qualitativen Sozialforschung geleistet habt und weiterhin leistet. Beide Plattformen sind interdisziplinär aufgebaut, und FQS reicht weit über Deutschland hinaus und schart inzwischen eine internationale Community um sich. Das BMT beschränkt sich zwar auf den deutschsprachigen Raum, ermöglicht aber leibhaftige Begegnungen und trägt seit langem wesentlich zur Vernetzung der qualitativ Forschenden bei (wie auch die QSF-Liste). Das BMT ist eine Institution geworden, und wie sehr es uns fehlt, wenn es nicht stattfindet, wurde uns gerade in diesen Corona-Zeiten besonders bewusst. Dass auch das BMT so erfolgreich wurde, hat mit dem unermüdlichen Einsatz zu tun, mit dem Katja und du auch dieses Projekt lanciert habt, dann aber auch mit der perfekten Organisation, die Rubina und du seit längerer Zeit sicherstellt, den neuen Ideen, die jedes Jahr diskutiert werden, und schließlich mit deiner gewinnbringenden Persönlichkeit und deiner besonderen Art, die Veranstaltungen zu moderieren. Wer so viel geleistet hat, darf mit berechtigtem Stolz auf sein Lebenswerk zurückblicken!

Beim BMT 2018

Ein schönes wissenschaftliches Ritual besteht darin, Wissenschaftler*innen, die Besonderes geleistet haben, aus Anlass ihres 60. Geburtstages eine Festschrift zu widmen. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen nehmen sich dann die Zeit, für den Geehrten einen eigenständigen Beitrag zu schreiben, der sich mehr oder weniger auch mit den Schriften des Gewürdigten auseinandersetzt. Auch dein Schweizer Bruder hat natürlich gerne zu deiner Festschrift beigetragen. Es machte mir Spaß, deine Publikationen durchzugehen und etliche davon genau zu lesen, um mir ein Bild deiner wissenschaftlichen Interessen und Denkweisen zu machen – früher blieb ja nie wirklich genügend Zeit dazu. Besonders fühlte sich mein Fotografenherz natürlich von deinen Ausstellungen angesprochen, in denen du die Ergebnisse deiner Forschungsprojekte mittels Fotografien einem weiteren Publikum zugänglich machtest. Auch den Einsatz von Filmen, von Dokumentarfilmen wie Spielfilmen, um wissenschaftliche Resultate auf andere Weise zu vermitteln, fand ich spannend. Gefreut hat mich, dass du in den letzten Jahren mit der ‘performativen Sozialwissenschaft’ nun auch den passenden Ansatz gefunden hast, der das, was du schon immer gemacht hast, auch theoretisch und methodologisch begründet. Performative Sozialwissenschaft überschreitet ja nicht nur die Grenzen in Richtung Interdisziplinarität und Transdisziplinarität, sondern insbesondere auch zwischen Wissenschaft und Kunst. Im Unterschied zur Arts-based Research und zur Artistic Research bleibst du mit deiner Präferenz für eine Arts-informed Research ja methodisch der Wissenschaft treu, suchst aber neue Formen der Wissenschaftsvermittlung.

So haben mich dein 60. Geburtstag und dein Schrifttum dazu angeregt, mich auch selbst mit der performativen Sozialforschung auseinanderzusetzen. Das hat mir Spaß gemacht und mir neue Ideen gebracht. Wenn das nicht ein Grund zum Feiern ist!

So feiern wir dich zu deinem 60. Geburtstag mit einer Festschrift, aber auch mit persönlichen Blogeinträgen. Falls auch du ein etwas mulmiges Gefühl hast, heute die 60erGrenze zu überschreiten, habe ich für dich zum Abschluss aber noch good news: Ab dem 60. Geburtstag darf man – so lautet das zweite Thomas-Theorem – nur noch das machen, was einem Freude bereitet! Das muss leitend sein für die Frage, was man in den nächsten Jahren beruflich noch leisten will. Man darf sich zunehmend von äußeren Zwängen befreien und die gesellschaftlichen Anmutungen in ein optimales Gleichgewicht mit den eigenen Wünschen bringen. Richte deinen Bick also frohgemut auf die Zukunft – und genieße jeden Tag deines Lebens!

Sei herzlich umarmt,

Dein Thomas