Die Matrix jener Tage

Freundschaften kann man schwer suchen, wenn, dann finden sie dich. Ich gehe mit dem Wort Freundschaft sparsam um. Günter ist über die Jahre für mich das geworden, was man einen “guten Freund” nennt. Damit wäre eigentlich alles Wichtige gesagt und der Text könnte hier enden. Aber ich erzähle die Geschichte trotzdem mal.

In der Zeit, als wir uns kennenlernten, hatte die Musik entweder sehr viel Hall oder war direkt, laut und roh. Krach und Industriegeräusch waren uns die neue Kunst der Fuge und Neonlicht ein wärmendes Lagerfeuer. Die Wälder verloren ihre Blätter und die Menschen ihre Arbeit. Auf den Demos waren wir gegen Atomkraft und für den Frieden. Kohl wurde Kanzler und an den Häuserwänden stand “Züri brännt”. Die Maler, die uns auffielen, empfand man als “Die Neuen Wilden” und statt englischer Texte gab es die Neue Deutsche Welle. Die 80er Jahre waren eine sonderbare Zeit der Gegensätze, der Um- und Aufbrüche, überall fragmentierte Versuche für Neuanfänge von Leuten, die ebenso Orientierung suchten wie wir. Und in all dem Durcheinander war es UNSERE Zeit.

Ich arbeitete damals in einem Sprachheilzentrum, in dem Günter seinen Zivildienst machte. Eigentlich waren wir uns nicht sehr ähnlich. Manchmal hilft es, wenn Situation und Weg, Style und Eigenart, nicht zu nah beieinander sind und konkurrieren. Ähnlich war sicher, dass wir beide einen Weg suchten, einen Plan, einen Platz im Leben, der “richtiger” sein sollte. Zwar gaben wir dauernd Antworten, aber mit etwas Abstand scheint, dass es Fragen waren. Vermutlich war es das, was uns am jeweils anderen anzog und immer wieder zusammenführte, diese nicht genau zu benennende Suchbewegung, die Mut, Aufbruch, Zögern und Zweifel zugleich sein kann.

Günter fiel auf – nicht nur durch seine Größe – z.B. wenn er sich im schwarz eingefärbten Bundeswehroverall aus seinem Mini heraus faltete. Er hatte einen eigenen Stil, den er änderte, sobald er dechiffrierbar wurde, einengte – oder er Lust dazu hatte. Dass er David Bowie mochte, passte irgendwie. Wenn ihn etwas beschäftigte und ihm wichtig war, gab es keine Oberfläche und schnelle, einfache Antworten, er kniete sich rein. Mir gefiel dieses unbedingte Wollen und Hinterfragen und mir gefällt, dass er das bis heute tut.

Lag das Studium der Psychologie nahe? Ja und nein. Wenn Fragen Antworten suchen, dann ja, aber wenn Antworten vor allem Fragen aufwerfen, wäre irgendetwas mit Kunst und Kultur genauso naheliegend oder denkbar gewesen.

Günter war immer in beiden Welten unterwegs. Unglaublich, welches Talent er hatte, Angesagtes, Abseitiges und Neues aufzuspüren. Was neu, gut und anders war, konnte seinem Trend-Spotter-Blick nicht entgehen.

Wir lebten in Osnabrück; kein Epizentrum von irgendetwas. Aber es gab eine kleine Off-Kunst- und Filmszene. Erstaunlich lebendig für die Größe der Stadt. Hier schaffte er es schnell, sich zu vernetzen.

Auch seine Art, sich einzurichten, war bemerkenswert, seine Räume waren Statement und Inszenierung einer Neon-kühlen Reduktion. Er war ein erstaunlicher Perlentaucher popkultureller Trends und Themen, die er dann, durchaus meinungsstreng, vertreten konnte.

Uns verbanden neben den großen Lebensfragen die Musik und unser Interesse an Kunst und Kultur. Ob Bauhaus, Cabaret Voltaire, Einstürzende Neubauten oder Test Dept. Ich bin sicher, viele Impulse nach Platten dieser Bands Ausschau zu halten kamen von ihm.

Meine Wege gingen in dieser Zeit in Richtung Fotografie und Film. Günter konnte ich für ein Foto-Shooting gewinnen, das damals aber noch nicht so hieß. Musste ich ihn überreden? Ich glaube nicht. Wenn ich heute in den Kontaktabzügen blättere, bin ich erstaunt, was wir da alles an einem einzigen kalten Februartag 1987 produzierten.

Eine Serie Fotos mit einer markanten weißen Schaufensterpuppe aus seinem Fundus waren besonders gelungen. Daraus entwickelte sich dann ein typischer 80er Jahre Experimentalfilm, mit ihm als Darsteller. Was zunächst eher spontan, vage und beiläufig begann, bekam schnell eine ambitionierte Richtung. Später habe ich das noch oft mit ihm erlebt, dass aus eher spielerischen Anfängen bald ein nachdrücklich verfolgtes Projekt wird. Auch das Thema ist Teil der Botschaft, seine Bühne das Projekt.

Der Film hieß “Kontakt” und wurde ein Kreisen um Isolation, Selbstbespiegelung, Entfremdung, und besagter 80er-Jahre-Orientierungssuche, leicht postmodernistisch zerlegt und mit einem Spritzer Endzeitstimmung. Unser Zeitempfinden muss anders gewesen sein, denn aus heutiger Sicht ist er doch erstaunlich lang. Und nicht leicht konsumierbar, was aber zu der Zeit einem Prädikatssiegel gleich kam. So schaffte es der Film auf die einschlägigen Filmfestivals und machte nicht nur mir Lust auf mehr.

Film “Kontakt”

Kurz darauf kam von Günter die Idee, einen Dokumentarfilm zu machen. Diesmal brauchte er mich nicht lange überreden. Ohne Budget und Auftrag machten wir uns daran, das Thema Ortsidentität und Subkultur, Jugend und Entwicklungs-Frei-Räume anhand der damals legendären Diskothek “Hyde Park” vor unserer Haustür herunterzubrechen. Für Günter ging es sicher auch darum, seine scheinbar weit auseinander liegenden Interessen unter einen Hut zu bringen. Er konnte Heidi Keller, seine Professorin, davon überzeugen, dass diese Herangehensweise studienrelevant und als Projektarbeit anerkannt wurde. Für ihn also eine Art Blaupause dafür, wie er seitdem immer wieder Wissenschaft und Film/Kunst/Pop-Kultur zusammenbringt. Ich schätze diese Eigenwilligkeit an ihm, die ihn immer wieder dazu bringt, seinen besonderen Weg oder Zugang zu einem Thema zu suchen.

Für uns hatte das den Vorteil, dass wir nun auch offiziell die umfangreiche, aber selten eingesetzte Videoausrüstung der Uni Osnabrück benutzen konnten. Bis dahin hatte ich mir für meine Filmprojekte den Zugang eher erschlichen, da man mich dort irrtümlich für einen Mitarbeiter hielt.

Die Arbeit an dem 60-minütigen Film “Hyde Park” wurde dann eine der intensivsten Phasen unserer Kollaboration. Während der Film entstand, wurde klar, dass wir beide anschließend Osnabrück verlassen würden. Günter war auf dem Weg nach Berlin, um dort sein Psychologie-Studium fortzusetzen, und überhaupt, Berlin war für ihn irgendwie auch Fixstern, selbsterklärend und damit gesetzt. Ich war auf dem Sprung nach Bremen, um dort ein Filmstudium zu beginnen.

Als wir merkten, dass der Film auf einem guten Weg war, entspannte sich vieles an unserer Arbeitsweise und wir konnten die letzten Monate in der Stadt, unseren Abschied und unsere Zusammenarbeit genießen, zelebrieren, auskosten. Wohl wissend oder zumindest spürend, dass mit der Zeit in Osnabrück auch ein prägender Lebensabschnitt zu Ende ging.

Eine schönere Abschiedsfeier als die Doppel-Premiere mit den Filmen “Hyde Park” und “Kontakt” auf dem European Media Art Festival in Osnabrück und die anschließende Willkommensfeier mit dem Film in Berlin auf dem Videofest der Berlinale kann ich mir nicht vorstellen.

Film “Hyde Park”

Aus der Matrix jener Tage wurde dann das Muster, wie wir seitdem die Wege des jeweils anderen begleiten und sie sich immer wieder kreuzen. Mal im engen Kontakt, dann wieder mit Phasen des größeren Abstandes, in denen wir den Weg des Anderen eher bruchstückhaft beobachten. Eine feste Institution unserer Treffen wurden unsere Küchengespräche mit Debatten über die kleinen und großen Lebensfragen, Kunst, Musik und alles Mögliche. Immer mit gutem Essen, denn Günter ist ein ausgezeichneter Koch. Heute schwer vorstellbar, wie wir diverse Küchen in Berlin, Bremen und später Hamburg in jeder Hinsicht zuverlässig vernebelten. Aber zum Vernebeln gehörte auch immer das “Durchdringen”, denn das schätze ich an den Gesprächen und Debatten mit ihm: um Standpunkte kann gerungen werden, und “halbe Wahrheiten” gehören vervollständigt.

Ein Produkt dieser Abende wurde dann, über 25 Jahre später, unser zweiter gemeinsamer Film über die Hamburger Kindheitsforscherin Martha Muchow. Günter hatte sich lange Zeit intensiv mit ihrem Forschungsansatz beschäftigt und immer einen Film im Sinn. Aber diesmal dauerte es länger, bis ein möglicher Weg gefunden war, das Projekt zu realisieren. Wissenschaft an der Schnittstelle zum Film zu finanzieren ist eine echte Herausforderung. Durch sein Networking und die Mittel aus Stiftungen und von anderen Förderern wurde dann die Produktion doch möglich. Auch hier zeigte sich, welches Gewicht er einem Projekt verleihen kann. Schwer vorstellbar, dass etwas zu stoppen ist, was er engagiert verfolgt. Und in der Zusammenarbeit kann man auf seine Verlässlichkeit und Sorgfalt bauen. Von niemandem bekomme ich schneller eine Antwort auf eine Mail, egal zu welcher Tageszeit.

Ein schönes Déjà-vu war dann2014 wieder einmal gemeinsam im Kino einen Film zu präsentieren: “Auf den Spuren von Martha Muchow”, diesmal Premiere in Hamburg, noch dazu im Abaton, einem der renommiertesten Programmkinos Deutschlands.

Trailer “Auf den Spuren von Martha Muchow”

Neben dem Flanieren (für Günter eigentlich nur in Städten, maximal städtischen Parkanlagen möglich), dem Sitzen in Cafés, Bars und Restaurants und dem Durchstreifen von Museen und Ausstellungen entstehen bisweilen immer wieder kleine, spielerisch abseitige Clips und Fotos, die daran erinnern, wie unser Zusammen-Sein-Suchen-Arbeiten-Finden einmal begann. Das ist schön und sollte bitte unbedingt so bleiben.

THE END

Glückwunsch-Remix the Remake-Clip “THE RETURN – Endlich Kontakt Teil 2”

Günter Wallbrecht