Notiz zu Geschichte und Gegenwart qualitativer Sozialforschung – Günter Mey zum 60. Geburtstag

Von Michael Zander

Möglicherweise wird man eines Tages auf die Psychologie und die Sozialwissenschaften unserer Zeit zurückblicken und Mühe haben, nachzuvollziehen, warum in den diversen Fächern die qualitative Sozialforschung einen so schweren Stand hatte. Besonders befremdlich wird man dies vielleicht insbesondere im Falle Deutschlands und Österreichs finden, von wo aus einst die Naziherrschaft und der Zweite Weltkrieg ihren Ausgang nahmen. Forscherinnen und Forscher wurden ermordet, z.B. Käthe Leichter und Georges Politzer, in den Selbstmord getrieben – wie Martha Muchow nach der Entlassung William Sterns und nach ihrer eigenen Suspendierung (Mey & Wallbrecht, 2016) –, oder sie sahen sich zur Flucht gezwungen, unter ihnen Theodor W. Adorno, Marie Jahoda und Kurt Lewin. Mehrheitlich bezogen sich die Genannten in ihren Werken auf die Schriften von Karl Marx und Sigmund Freud.

Letzterer gehörte 1938 ebenfalls zu den Exilanten. Im Jahr 1895, also am Beginn der Entwicklung seiner neuen Theorie und psychotherapeutischen Methode, die er später Psychoanalyse nennen sollte, hatte Freud noch seiner Irritation darüber Ausdruck verliehen, dass sein Vorgehen und die Präsentation seiner Befunde gewissermaßen eine qualitative Form angenommen hatten. Die Irritation hatte mit seiner bisherigen beruflichen Laufbahn in der Neurologie zu tun: “Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und dass sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muss mich damit trösten, dass für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe …” (Freud 1952 [1895], S.227)

Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, die wir den Verfolgten verdanken, haben bis heute eine überragende Bedeutung für die Psychologie, und noch ihre Unzulänglichkeiten, Ungereimtheiten und immanenten Widersprüche sind lehrreich und haben Anlass zu produktiver Kritik und Weiterentwicklung gegeben. Sie zeichnen sich inhaltlich und methodisch vor allem durch zweierlei aus: Einerseits widmen sie sich den gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Problemen ihrer Zeit und zielen auf Lösungsvorschläge, die in der Tendenz dahin gehen, Demokratie durchzusetzen oder auf bisher undemokratisch organisierte Bereiche der Gesellschaft auszuweiten; andererseits wenden sie sich gegen Reduktionismus, auch in der Methodologie, weshalb in ihnen die reflektierte, vorurteilsfreie Verwendung unterschiedlicher und nicht zuletzt qualitativer Methoden selbstverständlich ist. Ein Beispiel ist etwa das rehabilitationspsychologische Lehrbuch der Lewin-Schülerin Beatrice Wright (1960), dessen erweiterte zweite Auflage (Wright 1983) die American Psychological Association im Jahr 2007 in eine 200 Titel umfassende Liste von “Essential Historical Books in Psychology” aufnahm (Wurl, 2008, S.234). Um das in dieser und anderen Arbeiten beschlossene wissenschaftliche Erbe zu bewahren und für die Gegenwart fruchtbar zu machen, muss die Marginalisierung qualitativer Forschung insbesondere in der Psychologie überwunden werden. Dafür wiederum braucht es an Hochschulen und Universitäten Psychologinnen und Psychologen, die “das mittragen und durchkämpfen” (Markard et al. 2017, S.271).

Günter Mey ist einer von ihnen und er steht dabei – inzwischen seit Jahrzehnten – in vorderster Reihe. Zu nennen sind hier nicht nur die gemeinsam mit Katja Mruck verfassten Arbeiten und herausgegebenen Sammelbände (u.a. Mey & Mruck 2020), deren Bedeutung für die deutschsprachige Methodendiskussion kaum zu überschätzen ist, sondern auch die Beiträge, die entweder der qualitativen Forschung neue Gegenstandsbereiche erschließen – etwa die Disability Studies (Zander & Mey 2018) – oder die neue Verhältnisbestimmungen anregen, z.B. zwischen Grounded-Theory-Methodologie und Kritischer Psychologie (Mey 2020; Mey et al. i.E.) sowie generell zwischen qualitativer Forschung und der Kritik am psychologischen Mainstream (Mey 2018a).

Nicht unerwähnt bleiben soll ein weiterer Arbeitsschwerpunkt von Günter Mey, die Untersuchung gegenwärtiger und historischer Jugendkulturen (z.B. Mey 2018b). Insbesondere aus der gegenwärtigen Politisierung der jungen Generation angesichts der menschengemachten Klimakrise könnten sich für die (qualitative) Jugendkulturforschung neue Fragestellungen und Perspektiven ergeben.

Dr. Michael Zander vertritt derzeit die Professur “System der Rehabilitation” im Studiengang Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal.

Literatur

Freud, S. (1952[1895]). Studien über Hysterie. In S. Freud, Gesammelte Werke (Bd.1, S.75-342). London: Imago.

Markard, M.; Mey, G.; Scholz, J.; Thomas, S.; Rüppel, J. & Uhlig, T. (2017). Qualitative Forschung – ein Weg zu einer kritischen Psychologie? – Eine Podiumsdiskussion. In D. Heseler, R. Iltzsche, O. Rojon, J. Rüppel & T.D. Uhlig (Hrsg.), Perspektiven kritischer Psychologie und qualitativer Forschung. Zur Unberechenbarkeit des Subjekts (S.351-382). Heidelberg: Springer VS.

Mey, G. (2018a). Das Hadern mit dem Mainstream: Annotationen zur Entwicklung qualitativer Forschung. In K. Reimer-Gordinskaya & M. Zander (Hrsg.), Krise und Kritik (in) der Psychologie: Festschrift für Wolfgang Maiers (S.41-54). Berlin: Argument.

Mey, G. (Hrsg.) (2018b). Jugendkultur in Stendal: 1950-1990: Szenen aus der DDR – Porträts und Reflexionen. Berlin: Hirnkost.

Mey, G. (2020). “Wir sind keine Kodierautomaten.” Positionen und Potenziale der Grounded Theory Methodologie. Ein Interview. Forum Kritische Psychologie – Neue Folge,2, 66-80.

Mey, G. & Mruck, K. (Hrsg.) (2020). Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie (2 Bde.). Wiesbaden: Springer VS.

Mey, G. & Wallbrecht, G. (2016). Auf den Spuren von Martha Muchow. Dokumentarfilm, https://qualitative-forschung.de/film-muchow/.

Mey, G.; Reimer-Gordinskaya, K.; Kalkstein, F.; Zander, M. & Dietrich, M. (i.E.). Grounded-Theory-Methodologie und Kritische Psychologie – Eine Diskussion. Forum Kritische Psychologie – Neue Folge, 3.

Wright, B.A. (1960). Physical disability – a psychological approach. New York, NY: Harper & Row.

Wright, B.A. (1983). Physical disability – a psychosocial approach. New York, NY: Harper & Row.

Wurl, S.L. (2008). Beatrice Wright – A Life History. University of Tennessee, https://core.ac.uk/download/pdf/268770893.pdf.

Zander, M. & Mey, G. (Hrsg.) (2018). Disability Studies. Journal für Psychologie, 26(2), https://journal-fuer-psychologie.de/index.php/jfp/issue/view/70.