Das Orakel vom Savignyplatz
Günter Mey ist ein ausgesprochen kluger Mensch. Feststellen konnte ich dies im Rahmen unserer vielen – fast schon ritualisierten – Gespräche. Sie beginnen in der Regel nach einer gemeinsamen Rückreise von der Hochschule in Stendal bei einem Abendessen im Westen Berlins (“aber heute mal etwas kürzer – ich hab’ morgen viel auf der Agenda”) und enden dann irgendwann in einer Bar im Westen Berlins (“Entschuldigung, noch einen Wein bitte! Jetzt is auch egal …”). Innerhalb eines dieser vielen Gespräche, bei denen nicht nur die ehrwürdige Wissenschaft, sondern auch der gesamte Themenkomplex “Leben” vorkommen kann, hat er mal einen Satz gesagt, der mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist: “Die Art und Weise, wie Beziehungen beginnen, nimmt unfassbar viel Einfluss darauf, wie sie verlaufen.” Dieser Satz, der eigentlich einen Kommentar zu einer küchenpsychologischen Exegese meiner damaligen Beziehung darstellte, ist alles andere als banal. Er taugt auch hervorragend, um die Begegnung(en) mit Günter zu reflektieren.
Ein erster Kontakt ergab sich im Sommer 2013: Zusammen mit meinem guten Freund Paul-Sebastian Ruppel war Günter in Mannheim. Der Grund dafür war ihr alljährliches Workshop-Gastspiel bei GESIS (nur original mit Ausflug in die Anzugabteilung im “Engelhorn”). Ich selbst war vor Ort, weil ich dort zu dieser Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni arbeitete. Paul war an dieser Stelle das Bindeglied und im Nachhinein betrachtet der Initiator für eine Beziehung, die sich über die Jahre immer arbeitsfokussiert, aber doch zutiefst freundschaftlich entwickeln sollte. Ich weiß, dass ich in der betreffenden Woche ziemlich busy war und zuerst absagen wollte, mich dann aber durchrang, weil der Anlass des Treffens neben einem “Ich stelle euch mal vor, ihr habt viele gemeinsame Forschungsinteressen und “auch so bestimmt einen guten Draht” ein besonderer war: Auf dem Programm stand, dass wir von Mannheim eine knappe halbe Stunde nach Heidelberg fahren wollten. Heidelberg ist nämlich die Heimat von “Kollege Ruppel” (so heißt Paul bei Günter bis heute, und Günter heißt bis heute “Herr Mey” für Paul, was oft in Interaktionen resultiert, die an Delling / Netzer erinnern). Vorgesehen war also eine kleine Tour durch Pauls geliebte Heimat mit einem abschließenden Getränk in der Nähe des Neckars. Es war ein guter (und langer) Abend, der zwar nicht im Westen Berlins, immerhin aber im Herzen der Heidelberger Altstadt verlief. Und Kollege Ruppel sollte Recht behalten: Es gab durchaus viele gemeinsame Forschungsinteressen – angefangen von einem Faible für Jugendkulturen (der sich in einem gemeinsamen BMBF-Teilprojekt zur Inszenierung von Jugendlichkeit und Generationalität in Szenen kanalisierte und einem anschließenden DFG-Projekt zu Rap & Rassismus bis hin zur Passion für qualitative Forschung, die Günter mit seiner Frau Katja Mruck nicht nur in zahlreiche wichtige Publikationen gegossen, sondern mit dem “BMT” praktisch zu einem Event in Deutschland gekürt hatte. Und ja, wir hatten auch einen guten “Draht”, der wahrscheinlich bis heute u.a. darin besteht, Ernstes gerne witzig zu verhandeln und es auch witzig zu finden, wenn man das Ernste nicht im ersten Anlauf oder auch gar nicht verhandelt bekommt.
Dieses erste Treffen mit Günter mit den Koordinaten “Sommerabend – halbberuflicher Kontext – Gastronomie” war bereits eine gute Weichenstellung. Der Abend, der den Verlauf der Beziehung jedoch gravierender prägte, ist sehr klar datierbar: Es war Dienstag, der 8. Juli 2014, und bisweilen sagt man, dass historische Ereignisse daran zu erkennen sind, dass man genau weiß, wo man mit wem zu diesem Zeitpunkt war. An diesem Sommerabend befanden wir uns in Günters “Wohnzimmer”, dem Savignyplatz zwischen seiner Lieblingsbar (dem “Hefner”) und dem “Bücherbogen” (dem wahrscheinlich fantastischsten Buchgeschäft Deutschlands). Anlass für den Abend war das Halbfinale der Weltmeisterschaft zwischen Deutschland und Brasilien. Da wir Günters bis heute (leider!) eisern vertretenem Credo des “Zu zweit findet man immer einen Platz” folgten und nicht reserviert hatten, blieb uns nur ein Platz bei einem dieser überteuerten, aber sehr mittelmäßigen Italiener, die am Savignyplatz gefühlt alle sechs Monate unter neuem Namen (aber mit demselben Interieur und Angebot) eröffnen. Das war dann aber auch egal, denn Deutschland gewann mit diesem unfassbaren 7:1 gegen den Gastgeber Brasilien. Das ist aber nicht die eigentliche Pointe. Denn offenbar folgte Günter kurz nach Anstoß einer göttlichen Eingebung, er behauptete, dass Thomas Müller das 1:0 für Deutschland erzielen und dabei rechts unten einschieben würde. Er meinte (mit einer für ihn durchaus typischen Freude am Unsinn solcher Wetten), dass wenn dies zuträfe, ich ihm auf Lebenszeit Pizza schulden würde. Ich habe daraufhin – als neuer Mitarbeiter durchaus etwas übertölpelt von diesem seltsamen Vorschlag – direkt eingewilligt. Die Wette selbst und ihr Konkretionsgrad waren so absurd, dass ich sogar vergaß, eine Gegenleistung zu vereinbaren für den Fall, dass die Wette misslänge (was halt verdammt wahrscheinlich war). Na gut, man ahnt es bereits: Es kam wie es das Orakel vom Savingyplatz im Weinstein gelesen hatte: Müller traf gegen Rekordweltmeister Brasilien direkt zum Auftakt, er schob rechts unten ein – allerdings nicht so ganz rechts unten wie es prophezeit wurde, sondern eher etwas unplatziert Richtung “Mitte”. Dies war zumindest die Spalterei, mit der ich mich aus der Lebenszeitverschuldung rettete. Wir haben dann das Spiel ungläubig weitergeschaut (es folgten ja noch sechs Tore) und es bei einigen Kaltgetränken genossen, den Dienstag eher zu einem Freitag zu machen, wobei derartiges Kleinbürgerdenken nie Günters Maxime ist: Der Edelpunk geht antizyklisch aus. Das Wochenende dient eher der Erholung oder dem Ausstellungsbesuch. Unter der Woche werden 50 Stunden Minimum gearbeitet und am besten bewältigt, wenn das Saturday Night Fever schon am Dienstag grassiert. In jedem Fall war an diesem Abend das Eis gänzlich gebrochen, und es vergeht bis heute nicht ein einziges Abendessen, bei dem nicht an mein pedantisches Ausweichmanöver erinnert wird (wobei dies stets mit einer Mischung aus anhaltender Beleidigung und Belustigung vorgetragen wird). Diese Vorliebe für den “Running Gag” kann man (um nun endgültig alle Register der Lobrede zu ziehen) “tiefgründig” wenden und ihn als Zeugnis einer Charaktereigenschaft deuten: Günter geht es bei Menschen, die er mag, um die Herstellung von Kontinuität, wobei er temporal und situativ veränderte Bedingungen antizipiert, aber eben zu moderieren weiß: Günter ist jemand, der alles andere als oberflächlich ist, sein Gedächtnis ist voll von Details, die er ernsthaft, aber eben mit Witz in die Arbeits- und Freundschaftsbeziehung einbringt. Dadurch entsteht bei mir (und sicher vielen anderen) der berechtigte Eindruck, dass das Gegenüber wirklich Interesse an der persönlichen oder professionellen Perspektive hat. Diese Eigenschaft kommt auch nicht von ungefähr, denn Günter ist bei allen Präferenzen für sozial- und kulturwissenschaftliche Themen (die ich seit nun sieben Jahren zusammen mit ihm bearbeiten darf) ein wirklich guter Psychologe. Die Neugier auf Menschen in Kombination mit einer sehr liberalen, toleranten Perspektive ist es aus meiner Sicht auch, die ihn zu einem außergewöhnlich guten qualitativen Forscher macht. Und so habe ich (nicht nur) in diesem Bereich unfassbar viel von ihm lernen dürfen. Ganz vorne dabei ist sicher alles, was zu seiner Lieblingsmethode, der Grounded-Theory-Methodologie gehört, die wir dann für meine Lieblingsmedien (Bilder-, Musikvideos und Spielfilm) “umgebaut” haben. Nun sind derartige Dinge (die Arbeit an Methodenbeiträgen) nun manchmal auch zäh – sie fühlen sich in der Zusammenarbeit mit Günter aber eigentlich fast nie nach Arbeit an: Die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit ist bei und mit Günter Mey ohnehin obsolet, und das meine ich im besten Sinne: Das DFG-Postdoc-Projekt haben wir uns im Grunde samstagabends bei einer Pizza in Neukölln ausgedacht, und auch die qualitativen Beobachtungen von “Interaktionen” im nächtlichen Berlin werden ab dem dritten Wein eher besser (zumindest bilde ich mir das in diesen Momenten oft ein). Weniger einbildungstauglich sind hingegen meine Qualitäten als Lobredner, denn eigentlich müsste ich jetzt noch die verschiedenen Fäden in diesem Text galant und tiefgründig zusammenführen – die Liste mit Momenten der Unterstützung, für die ich Günter zutiefst dankbar bin, wäre hierbei noch schillernder fortzusetzen, ich bleibe aber lieber bei dem, was ich kann, und reserviere am Savignyplatz. Dort verhandeln wir bei einem Wein Ernsthaftes unernst – dazu gibt es selbstredend Pizza, die ich selbstredend NICHT bezahlen werde. Wir sprechen … Marc